Herzlich willkommen zum fünften Teil unserer kleinen, aber intensiven Reise durch die Philosophiegeschichte. Wir haben die Antike und das Mittelalter hinter uns gelassen und betreten jetzt das, was man als Moderne bezeichnet. Diese Epoche ist kein gemütlicher Spaziergang. Die vertrauten Sicherheiten geraten ins Wanken, und das Denken muss neue Wege finden. Die Antike suchte Ordnung in der Natur. Das Mittelalter suchte Sicherheit in Gott. Die Aufklärung suchte Vertrauen in die menschliche Vernunft.
1. Unterschiedliche Trainingsdaten
Jedes Modell lernt aus anderen Quellen.
Was häufig vorkommt, erscheint als „wahrscheinlich“ – und bildet die Grundlage der Antworten.
2. Unterschiedliche institutionelle Rahmen
Unternehmen, Forschungseinrichtungen oder staatliche Akteure setzen andere Prioritäten.
Das prägt, was Modelle betonen oder vermeiden.
3. Unterschiedliche kulturelle Umgebungen
Sprache entsteht in Lebensformen.
Ein Modell, das überwiegend westliche Texte liest, wird andere normative Muster entwickeln als eines, das in einem autoritären oder kollektivistischen Umfeld trainiert wurde.
4. Unterschiedliche Zielsetzungen
Manche Modelle optimieren für Sicherheit, andere für Geschwindigkeit, andere für Meinungsfreiheit oder wirtschaftliche Effizienz.
Konsequenz:
KI ist nie neutral.
Sie spiegelt die Welt, aus der sie lernt – und verstärkt deren Strukturen.
Diese Linie erreicht mit Immanuel Kant ihren Höhepunkt. (Er ist der Mann mit dem strengen Blick auf den Porträts – passend zu seiner kompromisslosen Moralphilosophie.) Kant sagt im Kern: Der Mensch ist das Maß seiner Erkenntnis. Autonomie und Freiheit – die Fähigkeit, selbst zu denken – stehen im Mittelpunkt. Aber genau hier beginnt die Spannung, die uns bis heute prägt: Wer den Menschen zur letzten Instanz macht, muss akzeptieren, dass es keinen höheren Garant für Wahrheit mehr gibt. Die Moderne reagiert auf diese Situation. Sie liefert kein neues Fundament, sondern ein Bewusstsein für den Verlust von Fundamenten. Das Denken wird pluraler, beweglicher – und unübersichtlicher.
Nach Kant mussten neue Antworten her. Auch wenn uns antike Namen geläufiger sind, stammen die Vordenker unserer heutigen digitalen und pluralistischen Welt aus dem 20. Jahrhundert. Viele dieser Namen waren mir selbst nicht vertraut; dieser Teil der Reise ist also zugleich Recherche und Lernen.
Die erste große Verschiebung betrifft die Sprache. Wittgenstein erkennt, dass viele Denkprobleme aus dem Gebrauch von Sprache entstehen. Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch. Wahrheit ist kein Absolutum, sondern Ausdruck eines Sprachrahmens. Er zeigte, dass viele philosophische Probleme entstehen, weil wir die Regeln verschiedener „Sprachspiele“ vermischen – etwa, wenn wir die Alltagssprache mit der strengen Logik der Wissenschaft vermengen. Das zeigt sich heute überall: Missverständnisse entstehen in Chats und Mails schneller als im direkten Gespräch, weil Tonfall und Kontext fehlen.
Heidegger rückt das konkrete Leben in den Mittelpunkt. Erkenntnis entsteht nicht primär im Kopf, sondern im Umgang mit Situationen, Möglichkeiten und Grenzen. Das erinnert an buddhistische Einsichten: Der Mensch ist immer schon in die Welt geworfen und muss sich zu ihr verhalten. Sein zentrales Anliegen war das Ringen um die „Eigentlichkeit“ (das authentische Selbst) gegen das unpersönliche „Man“, das durch gesellschaftliche Normen bestimmt wird. Digitale Medien verstärken diese Spannung. Wir leben gleichzeitig vermittelt und doch körperlich präsent – eine Quelle moderner Entfremdung.
Foucault zeigt, dass Wahrheit nie neutral ist. Sie entsteht innerhalb von Machtverhältnissen. Wer die Deutungshoheit hat, lenkt das Denken anderer. Er analysierte historische „Diskurse“ (etwa über Wahnsinn oder Kriminalität) und zeigte, dass diese Wissenssysteme Technologien der Macht sind, die Menschen sortieren und kontrollieren. Das gilt heute nicht nur für Staaten, sondern für Algorithmen. Was wir sehen, lesen, empfohlen bekommen – all das erzeugt Strukturen, in denen Macht unsichtbar wirkt. Künstliche Intelligenz macht diese Zusammenhänge besonders deutlich: Ihre Antworten hängen von Daten und Trainingslogiken ab, nicht von „objektiver Wahrheit“.
Levinas verschiebt den Fokus zur Verantwortung. Ethik entsteht erst im Gegenüber. Der Blick des anderen stellt einen Anspruch, dem wir uns nicht entziehen können. Freiheit zeigt sich nicht in Unabhängigkeit, sondern in der Bereitschaft zu antworten. Levinas sah die westliche Tradition als „Totalität“ an, ein geschlossenes System, das den Anderen nur als Teil des Egos begreift. Die Begegnung mit dem unendlichen, unverfügbaren Anderen reißt das Ich aus dieser egozentrischen Begrenzung heraus. In einer beschleunigten, automatisierten Welt wirkt dieser Gedanke wie eine Erinnerung: Verantwortung ist nicht delegierbar, auch nicht an eine KI.
Was diese vier Strömungen verbindet, ist die endgültige Auflösung des traditionellen philosophischen Subjekts. Nach der Moderne ist das Ich nicht mehr der unerschütterliche Ausgangspunkt des Wissens: Es ist gespalten durch die Sprache (Wittgenstein), entfremdet vom Sein (Heidegger), strukturiert durch die Macht (Foucault) und in Frage gestellt durch die Ethik (Levinas). Die Philosophie des 20. Jahrhunderts lehrt uns, dass das Denken nicht beim Was anfängt, sondern beim Wie – dem Wie der Sprache, des Lebens und der Macht.
Bevor wir die Moderne abschließen, braucht es einen kurzen Seitenblick. Die philosophische Erschütterung Europas endete nicht an den Grenzen Deutschlands oder Frankreichs. In Russland entwickelt sich im 19. Jahrhundert ein eigener Tonfall – weniger systematisch, stärker existenziell. Dostojewski (1821–1881) untersucht Freiheit dort, wo sie schmerzt: in moralischen Grenzbereichen. Seine Figuren tragen die Bürde einer Zeit, die den Menschen selbst zur letzten Instanz gemacht hat. Tolstoi (1828–1910) verschiebt die Frage auf die Ethik. Er zeigt, wie schwierig moralische Klarheit wird, wenn Vernunft keine festen Grundlagen mehr bieten kann. Wladimir Solowjow (1853–1900) versucht, Vernunft, Christentum und eine Idee geistiger Einheit neu zu verbinden – ein Gegenentwurf zum wachsenden Nihilismus. Nikolai Berdjajew (1874–1948) radikalisiert die Freiheitsfrage: Für ihn ist Freiheit nicht Berechnung, sondern schöpferische Kraft, Ursprung menschlicher Würde. Russland ist damit kein äußeres Beobachtungsfeld, sondern ein Spiegel. Die Krise der Gewissheit erscheint dort unmittelbarer, weil sie weniger durch Begriffe als durch Lebenskonflikte verhandelt wird: Schuld, Verantwortung, Sinn, Überforderung. Russische Denker zeigen, wie weit die Moderne reicht, wenn man sie am Menschen selbst misst.
Was aus diesen Strömungen entsteht, ist kein neues, belastbares Fundament, sondern eine Vielfalt von Perspektiven. Die Moderne liefert keine gemeinsame Theorie, sondern eine Sammlung von Denkbewegungen, die die Unsicherheit ernst nehmen.
Ein notwendiger Einwurf. Die Namen, die die große Linie der Philosophie markieren, sind fast ausschließlich männlich. Nicht weil es keine Denkerinnen gab, sondern weil ihnen der Zugang zu Institutionen lange versperrt blieb. Für die Moderne darf man z.b. Hannah Arendt (Politik) oder Simone de Beauvoir (Existenzialismus) nicht vergessen.
Die Künstliche Intelligenz ist das philosophische A und O unserer Zeit, weil sie die zentralen Fragen der Moderne nicht nur stellt, sondern technisch beantwortet. Nach dem Zerfall der alten Gewissheiten (Natur, Gott, Vernunft) droht nun eine neue Instanz die Deutungshoheit zu übernehmen: der Algorithmus.
Heidegger sah die größte Gefahr der Technik nicht in Maschinen, sondern in einer Haltung: Alles erscheint als Ressource, die verfügbar, kontrollierbar und optimierbar ist. Dies nannte er „Bestand“. Diese Logik hat sich heute auf den Menschen selbst verschoben.
Datenprofile, Lebensläufe, Konsumspuren – sie werden zu verwertbaren Bausteinen, aus denen Modelle ableiten, wer wir sind und wer wir sein sollen. Die Technik wird damit nicht zum Werkzeug, sondern zur Denkform, die vorgibt, wie wir uns selbst verstehen sollen.
Wittgenstein argumentiert: Die Bedeutung eines Wortes entsteht aus seinem Gebrauch im Leben. Sprache ist kein Zeichencode, sondern ein Geflecht aus Situationen, Rollen, Absichten und Handlungen.
KI erzeugt Sätze, die flüssig und überzeugend klingen. Doch ihre Sprache steht nicht in einer gelebten Welt. Sie hat keine Absichten, kennt keine Situationen, übernimmt keine Verantwortung. Bedeutung entsteht bei ihr nicht aus Gebrauch, sondern aus statistischer Wahrscheinlichkeit. Darum wirkt ihre Sprache verständlich – ohne im menschlichen Sinn wirklich etwas zu meinen. Die Frage lautet: Was bleibt von Wahrheit, wenn kein Sprecher mehr dahintersteht?
Foucaults zentrale These lautet: Wahrheit entsteht in Machtverhältnissen. Diskurse – also die Ordnungen des Sagbaren – bestimmen, was als Wissen gilt und was unsichtbar bleibt. Wissen entsteht in Ordnungen, die bestimmen, was sichtbar wird und was nicht.
KI verstärkt diese Ordnungen: Sie lernt aus Daten, die bereits durch Institutionen, Medien und politische Akteure gefiltert wurden. Modelle übernehmen diese Vorauswahl nicht nur – sie stabilisieren sie.
So entsteht eine vorstrukturierte Wahrheit: nicht falsch, aber bereits geprägt von Machtgefügen, bevor sie überhaupt im Modell erscheint.
Dass verschiedene Modelle (OpenAI, DeepSeek, Grok usw.) dieselben Fragen unterschiedlich beantworten, zeigt genau diese Struktur:
Nicht die Technik entscheidet, sondern die Kombination aus Trainingsmaterial, kulturellem Umfeld und den Interessen der Institutionen, die sie entwickeln.
Für Levinas entsteht Ethik nicht aus Regeln, sondern aus der Begegnung mit dem Anderen. Der Anspruch des Gegenübers macht uns verantwortlich – und diese Verantwortung kann niemand anderes übernehmen.
Technik entlastet – und genau das macht sie verführerisch. Wir delegieren Entscheidungen, weil Modelle schnell wirken und Sicherheit simulieren. Doch Verantwortung entsteht nicht durch Berechnung, sondern durch Beziehung. Für Levinas bleibt sie unübertragbar: Der Mensch steht dem Anderen gegenüber, nicht das System. Wenn KI Entscheidungen vorbereitet, kann das hilfreich sein. Wenn sie Entscheidungen ersetzt, entzieht sie uns die Möglichkeit, moralisch zu handeln.
Lebensgeschichten werden verdichtet, normalisiert und optimiert. Die Modelle markieren, was „effizient“, „wahrscheinlich“ oder „angemessen“ ist. Wir orientieren uns daran, oft unbewusst. Dadurch entsteht eine stille Form der Entfremdung: Wir handeln weniger aus eigener Entscheidung und stärker entlang algorithmisch erzeugter Erwartungen.
Damit erfüllt sich Heideggers Warnung: Die Technik wird zur Vorstruktur des Denkens. Sie sagt uns nicht nur, wie die Welt funktioniert – sie sagt uns, was wir in dieser Welt zu sein haben.
KI ist nicht der Ursprung der Krise, sondern ihr Brennglas. Sie zeigt, wie offen die philosophischen Grundlagen der Moderne geblieben sind. Das eigentliche Problem ist nicht das Modell, sondern die Leerstelle, die es ausfüllt: unser Bedürfnis nach einer letzten Instanz, die uns Entscheidung, Wahrheit und Verantwortung abnimmt.
Damit schließt sich der europäische Bogen. Die Vielfalt, die wir hier nur andeuten, ist in außereuropäischen Traditionen seit Jahrhunderten verankert. Der nächste Schritt führt uns nach Indien, China und in den Buddhismus. Dort begegnen uns andere Antworten auf Unsicherheit, Identität und Verantwortung – und eine Erweiterung unseres Horizonts.
Philosophie war nie Besitz, sondern Bewegung. Und wer schreibt, weiß selten alles – aber lernt, genauer zu sehen. Diese Reihe entsteht nicht aus der Pose des Wissenden, sondern aus der Haltung des Mitreisenden. Vielleicht ist das die ehrlichste Form des Denkens: nicht festzulegen, was gilt, sondern zu erkunden, was trägt.