„Digitale Selbstbestimmung im Halbschatten“

Über Kontrolle, Vertrauen und die Ethik der unsichtbaren Infrastruktur

Die dunkle Seite der Kollaboration: Was passiert, wenn unser KI-Werkzeug unsichtbare Regeln hat?

Ich bin ein großer Fan von ChatGPT. Kaum ein Tool hat mein Denken, Schreiben und Arbeiten in den letzten Jahren so tiefgreifend verändert. Es ist nicht nur ein Werkzeug, sondern fühlt sich oft wie ein echter Kollaborateur an. Doch wahre Zusammenarbeit erfordert mehr als nur beeindruckende Ergebnisse – sie braucht Vertrauen. Und genau deshalb nehme ich die Grenzen dieses mächtigen Werkzeugs nicht beiläufig wahr. Die größte Irritation kommt dabei nicht von einer falschen Antwort, sondern von einer strukturellen Asymmetrie, die sich in alltäglichen Interaktionen zeigte.

Was passiert, wenn ein Werkzeug, das mit dir denken soll, beginnt, dich zu irritieren – nicht wegen seiner Leistung, sondern wegen seiner unsichtbaren Infrastruktur?

📌 Anmerkung zur Zeitachse: Die nachfolgenden Irritationen und Beobachtungen stammen aus der frühen Nutzungsphase des Tools als zahlender Abonnent. Auch wenn sich einzelne Funktionen durch Updates mittlerweile geändert haben mögen, bleiben die daraus abgeleiteten philosophischen Fragen zur Struktur von Kontrolle und Vertrauen hochaktuell

Das Problem der Löschbarkeit - Wer hat das Eigentum am digitalen Dialog?

Die wohl offensichtlichste Irritation lag in der scheinbaren Illusion der Löschbarkeit. Als Nutzer der ersten Stunde stellte ich fest: Es gab keine Funktion zum gezielten Löschen von Bildern oder Inhalten in der eigenen „Bibliothek“.

Dass sich gespeicherte Inhalte nicht entfernen ließen, obwohl man als Nutzer lokal darüber verfügte, widerspricht einem Grundprinzip digitaler Selbstbestimmung. In der analogen Welt gilt: Was ich erschaffe oder auf meinen Schreibtisch lege, kann ich jederzeit verbrennen oder wegwerfen.

Im digitalen Raum ist diese Kontrolle delegiert. Wer etwas hochlädt, muss es auch entfernen dürfen. Fehlt diese Funktion, stellt sich die philosophische Frage: Wer besitzt eigentlich die Inhalte, die in dieser Kollaboration entstehen? Das Werkzeug gehorcht zwar meinem Befehl zur Erzeugung, aber es gehorcht nicht meinem Befehl zur Vernichtung. Hier beginnt die Erosion des Vertrauens.

Die Illusion der Deaktivierung Kontrolle – aber auf welcher Ebene?

OpenAI bietet Nutzerinnen und Nutzern die Möglichkeit, das Training der KI mit den eigenen Daten zu deaktivieren. Das ist auf den ersten Blick beruhigend. Doch die Unklarheit, die dahintersteht, ist der eigentliche Lackmustest für die Transparenz.

Denn diese Einstellung betrifft nur das Modell – nicht zwangsläufig die Produktnutzung. Wenn z. B. gelöschte Bilder weiter im Editor erscheinen oder frühere Inhalte nach Löschung erneut auftauchen, stellt sich die Frage: Wird hier Feedback verarbeitet – ohne, dass es wirklich löschbar ist? Trotz Deaktivierung der Option blieb unklar, ob Inhalte intern weiterhin temporär gespeichert oder analysiert wurden.

Die technische Trennung zwischen „Modell“ und „Produkt“ ist real, aber für uns Nutzer kaum erfahrbar. Kontrolle wird uns als Einstellungsoption angeboten, aber sie wird nicht spürbar. Was bedeutet Kontrolle, wenn wir nicht sehen oder überprüfen können, wer was wann noch auswertet?

Das Einweg-Feedback Die Asymmetrie des Dialogs

Der Philosoph Platon sah im Dialog die höchste Form der Wahrheitsfindung. Doch ein Dialog ist ein Austausch.

In Momenten, in denen ein Eingriff in eigene Inhalte gewünscht wäre oder ein technisches Manko auffiel, fehlten Wege zur direkten Reaktion. Rückmeldefunktionen waren schwer auffindbar oder kontextfern.

Wenn wir uns die KI als Partner in der Werkstatt vorstellen: Wir reden mit ihm (dem Output-Modell), aber wir können dem Werkstattleiter (dem Unternehmen) keine klaren, direkten Anweisungen geben, wenn das Werkzeug klemmt. Diese Asymmetrie des Dialogs verwandelt die Kollaboration in eine Einbahnstraße. Sie lehrt uns, dass unsere Rolle weniger die des aktiven Partners ist, sondern die des passiven Konsumenten, dessen Feedback nur selektiv und unsichtbar verarbeitet wird.

Fazit für die Gedankenräume

Dieser Beitrag ist kein Vorwurf – sondern eine Einladung zur Reflexion: Die hier beschriebenen Lücken sind keine technischen Kleinigkeiten, sondern Lackmustests für das Vertrauen in unsere digitalen Werkzeuge.

Es geht nicht nur um Technik, sondern um digitale Mündigkeit. Vertrauen entsteht dort, wo Kontrolle nicht nur versprochen, sondern erfahrbar wird. Wenn wir mit diesen mächtigen Tools wirklich zusammenarbeiten wollen, müssen wir die ethische Verantwortung für die Infrastruktur einfordern.

 

Fragen zur Diskussion

 

  • Was wünschst du dir, wenn du digitale Werkzeuge nutzt – erfahrbare Kontrolle, absolute Transparenz, oder echten Einfluss?

  • Welche Erfahrungen hast du selbst gemacht mit Tools, die nicht tun, was du erwartest? Was lehrt dich das über deine eigenen Erwartungen an Technologie?

  • Wie könnten Plattformen mit Nutzenden besser kommunizieren – oder ihnen echten Einfluss geben, der über das reine Deaktivieren einer Option hinausgeht?

Teile deine Gedanken, Martin. Denn manchmal beginnt Veränderung nicht mit einem Code, sondern mit einer ehrlichen Frage, die wir in unsere gemeinsamen Gedankenräume stellen.

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