Politiker nennen es „Realismus“, wenn sie längeres Arbeiten verlangen. In Wahrheit ist es ein Reflex aus einer Epoche, in der Arbeit als selbstverständlich verfügbar galt. Diese Epoche endet. Künstliche Intelligenz und Automatisierung verlagern Wertschöpfung, ohne im gleichen Maß menschliche Stellen zu schaffen. Entscheidend ist nicht, dass „die Arbeit“ verschwindet, sondern dass unter heutigen Marktbedingungen weniger davon als bezahlte Erwerbsarbeit beim Menschen bleibt.
Aus dieser Perspektive wirkt der Ruf nach einem höheren Renteneintrittsalter wie Verwaltung der Vergangenheit. Er setzt voraus, dass menschliche Arbeitskraft das begrenzende Gut bleibt – doch das Verhältnis kehrt sich um. Während Produktivität steigt, sinkt der Bedarf an Beschäftigten; die Beitragsbasis schrumpft, der Finanzierungsdruck wächst. Wer also länger arbeiten soll, tut das nicht, weil er gebraucht wird, sondern weil das System sonst nicht aufgeht.
Das ist keine Zukunftsphantasie, sondern stille Gegenwart. Viele über Sechzigjährige erleben sie bereits heute – nicht nur in technologiegetriebenen Feldern, sondern auch in administrativen Routinen: Sachbearbeitung, Büro- und Kundendienste, Callcenter, Teile der Wissensarbeit bis hin zur IT. Überall dort, wo Tätigkeiten standardisiert, regelbasiert oder datenlastig sind, ist KI schlicht effizienter. Erfahrung zählt dann weniger als Kosten. Wer den Job verliert, erhält selten eine realistische Chance auf bezahlte Umschulung. Die Forderung nach „Durchhalten“ kommt als stille Rentenkürzung daher – als Verschiebung von Systemrisiken auf jene, die ihre Schuldigkeit längst getan haben.
Und genau hier beginnt die eigentliche Frage: Wenn Produktivität Menschen ersetzt – wer ersetzt dann den Sinn von Arbeit?
Die Debatte über das Rentenalter ist mehr als eine Frage der Gerechtigkeit. Sie legt den Grundwiderspruch eines Systems offen, das an Vollbeschäftigung als Leitbild festhält, während es sie technisch unterläuft. Was früher als Arbeitsmangel galt, kehrt sich in Überfluss an Arbeitskraft um. Politik reagiert darauf, als ließe sich Strukturwandel durch individuellen Fleiß kompensieren. Gefordert wird längeres Arbeiten – zugleich wächst die Zahl derer, die faktisch früher gehen müssen.
„Durchhalten“ wird zur Tugend erklärt, als ließe sich Erschöpfung in Produktivität verwandeln. De facto verschiebt sich die Verantwortung: weg von gemeinschaftlichen Lösungen, hin zur privaten Belastbarkeit. Wer nicht mehr mitkommt, gilt als unflexibel. Doch Anpassung ersetzt keine Stellen, und Disziplin füllt keine Lücken, die strukturell geworden sind.
Wenn Produktivität dauerhaft mehr Menschen freisetzt, als sie integriert, entsteht eine paradoxe Lage: ökonomisch effizient, gesellschaftlich instabil. Sinkende Erwerbseinkommen schwächen Nachfrage und Vertrauen; die soziale Basis erodiert. In dieser Situation ist Grundsicherung weniger moralische Geste als ökonomische Notwendigkeit – die Übersetzung von Produktivität in Teilhabe.
Wird bezahlte Erwerbsarbeit knapper, braucht die Grundsicherung eine breitere Finanzierungsbasis – nicht immer weniger Zahler. Die einfache, aber konsequente Antwort lautet: ein gemeinsamer Topf. Alle Berufsgruppen zahlen ein – unabhängig von Status, Branche oder besonderem Versorgungsweg. Je breiter die Basis, desto stabiler das System.
Die Logik ist schlicht: Teilhabe ist eine Systemleistung, also braucht sie eine Systemfinanzierung. Nicht Sonderkassen und Ausnahmen, sondern einheitliche Regeln und eine gemeinsame Bemessungsgrundlage über Erwerbsformen hinweg. Wer Wertschöpfung erzielt, beteiligt sich – damit Grundrente und Grundsicherung verlässlich bleiben, statt in Konjunkturen zu zerfasern.
So wird Produktivität übersetzt: nicht in Einsparung am Einzelnen, sondern in Stabilität für alle. „Ein Topf für alle“ ist kein moralisches, sondern ein organisatorisches Argument.
Produktivität war lange ein Versprechen: mehr leisten, mehr schaffen, mehr Wohlstand. Mit der KI verändert sich ihr Charakter. Sie steigert nicht mehr primär den Ertrag menschlicher Arbeit – sie ersetzt ihn. Maschinen, die früher ergänzten, übernehmen heute ganze Prozessketten. Tätigkeiten, die einst auf viele verteilt waren, werden von Systemen erledigt, die kaum noch Menschen brauchen. Produktivität wird so zum Strukturwandler: Sie konzentriert Wertschöpfung, statt sie breit zu verteilen.
Nicht jede Tätigkeit lässt sich ersetzen. Doch der Wegfall ganzer Bereiche bleibt nicht folgenlos. Er verschiebt Arbeitskraft und verändert auch dort die Bedingungen, wo Arbeit bleibt: Wenige tun, was viele taten; viele suchen Aufgaben, die es so nicht mehr gibt. Umschulung und Weiterbildung werden als Wundermittel gehandelt, sind faktisch jedoch ungleich verteilt. Jüngere werden gefördert, Ältere fallen zu oft durchs Raster. Ab einem gewissen Alter gilt Qualifikation nicht mehr als Investition, sondern als Kostenfaktor. Menschen mit jahrzehntelanger Erfahrung werden aussortiert, weil das System sie unter seinen Effizienzkriterien nicht mehr braucht – ihr Wissen wiegt weniger als ihre Kosten.
Oft wird das Zynische als Fürsorge verkauft. Die politische Botschaft lautet: länger arbeiten, am besten bis kurz vor dem Umfallen – das entlastet die Kassen. Die Praxis sagt etwas anderes: Viele Ältere passen in das neue Effizienzregime nicht mehr hinein, erhalten keine bezahlte Umschulung mehr und werden „sozialverträglich“ in den Ruhestand gedrängt. Vorzeitige Verrentung ersetzt die Chance auf Wandel – und spart nebenbei Rentenpunkte. Diese Doppelbotschaft ist der Kern des Widerspruchs: gefordert wird Durchhalten, ermöglicht wird der Ausstieg. Die Kosten tragen jene, die früher gehen müssen – mit Abschlägen und dem Gefühl, aussortiert zu sein. Rechtlich gilt zugleich: Die durch Jobcenter veranlasste vorzeitige Altersrente („Zwangsverrentung“) ist seit 1.1.2023 bis 31.12.2026 ausgesetzt; ohne neue Regelung kann sie ab 2027 zurückkehren (vgl. § 12a SGB II). Damit bleibt die Unsicherheit bestehen – zwischen politischem Appell zum Längerarbeiten und realen Frühabgängen. Das ist kein Strukturwandel, das ist Verwaltung des Überflüssigen.
Daraus erwächst ein neues Ideal: das Durchhalten. Wer keinen Platz findet, soll sich eben mehr anstrengen. Wer überfordert ist, gilt als unflexibel. Diese Moral verschiebt Verantwortung – vom System auf das Individuum. So wird gesellschaftliche Erschöpfung personalisiert: Jeder kämpft für sich – und Erschöpfung gilt als Anpassungsfähigkeit.
Doch ein System, das mehr Menschen freisetzt, als es integrieren kann, sägt an seiner eigenen Basis. Wenn Einkommen sinken, schrumpft Nachfrage; wenn Unsicherheit wächst, bricht Vertrauen. Produktivität ohne Übersetzung in Teilhabe wird zur Falle – ökonomisch wie sozial. Deshalb ist Grundsicherung kein Almosenprojekt, sondern ein Stabilitätsanker. Sie verwandelt Produktivität in gesellschaftliche Tragfähigkeit, anstatt sie in Überflüssigkeit zu verdampfen.
Leistung bleibt legitim. Wer kann, darf mehr verdienen, mehr vorsorgen, mehr gestalten. Aber niemand darf fallen, nur weil die Struktur ihn nicht mehr braucht. Existenzsicherung ist keine Belohnung, sondern die Basis, auf der ein Gemeinwesen steht. Würde beginnt nicht mit Erfolg, sondern mit Sicherheit.
Der Strukturwandel der Arbeit hat eine zweite, stillere Folge: die politische. Wenn Erwerbsarbeit ihre Rolle als Grundlage sozialer Identität verliert, entsteht ein Vakuum – und es wird gefüllt. Wo Sicherheit erodiert, wächst die Versuchung, Schuldige zu suchen. Nationale und populistische Bewegungen gedeihen nicht, weil sie Lösungen bieten, sondern weil sie Gefühle binden: Angst, Ohnmacht, Entwertung.
Was als ökonomische Verdrängung beginnt, wird zur kulturellen Wunde. Menschen, die sich über Jahrzehnte über Arbeit definierten, erleben ihren Ausschluss nicht als technologische Entwicklung, sondern als persönliche Kränkung. Wenn Produktivität sie ersetzt, suchen sie Gegner, die greifbar sind. Strukturfragen werden zu Identitätskonflikten; Radikalisierung wird zur Ersatzhandlung für gesellschaftliche Sprachlosigkeit.
Der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien ist daher weniger Ausdruck fester Überzeugungen als Symptom kollektiven Orientierungsverlusts. Wer sich überflüssig fühlt, sucht Bedeutung; wer keine Zukunftsrolle erkennt, sucht Rückkehr. Das ist die soziale Dimension der Automatisierung: Nicht nur Arbeit, auch Zugehörigkeit geht verloren. Hier entscheidet sich, ob technischer Fortschritt zur Spaltung oder zur Neuordnung führt – ob wir Angst verwalten oder sie verstehen.
Künstliche Intelligenz ist weniger Gegner als Stresstest unserer Ordnung. Sie zeigt, was in uns automatisierbar ist – und was nicht. Wenn Maschinen Aufgaben übernehmen, werden wir gezwungen, neu zu fragen, was es heißt, zu fühlen, zu wollen, zu handeln. Die Herausforderung liegt nicht in der Technik, sondern in der Bereitschaft, sie zu einem Teil des Gemeinwesens zu machen.
Es reicht nicht, KI als Werkzeug zu betrachten, das sich in bestehende Systeme fügt. Diese Systeme selbst müssen sich verändern. Wenn Produktivität und Wissen nicht länger an menschliche Hände gebunden sind, muss Teilhabe neu definiert werden – nicht als Besitzstand, sondern als gemeinsame Verantwortung. KI kann Wohlstand schaffen; sie darf jedoch nicht zur Trennlinie werden zwischen denen, die sie nutzen, und denen, die sie ersetzt.
Ob KI zur Spaltung oder zum Fortschritt führt, hängt davon ab, ob wir sie zum Privileg weniger machen – oder zum Werkzeug vieler. Der Fortschritt gehört der Allgemeinheit, oder er verliert seinen Sinn.
Nicht die Maschine zähmen – den Menschen erinnern.
Dieser Text erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Er will einen Denkraum öffnen – nicht schließen.
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